Frenemies – können aus vermeintlichen (!) Feinden Freunde in gemeinsamer Sache werden?
Opferkonkurrenz ist ein kontroverses, aber wichtiges Thema, über das gesprochen werden muss. Dieser Aufgabe nimmt sich das Buch „Frenemies“ an.
„Was hab ich da nur angefangen“? fragte ich mich, nachdem ich gerade die Einleitung gelesen und ein Zitat aus eben dieser gepostet hatte, welches sofort hitzige Reaktionen auslöste. Und genau diese Frage müssen sich auch die Herausgeber·innen während der Arbeit an diesem Projekt mehr als einmal gestellt haben. Denn bereits beim Zusammentragen der Texte zeigte sich, dass es so gut wie unmöglich ist, wirklich alle beteiligten Stimmen an einen Tisch – oder in diesem Fall in ein Buch – zu bekommen.
So zogen kurz vor Druck mehrere Autor·innen ihre Texte zurück nachdem bekannt geworden war, dass ein anderer Text von zwei der BDS-Bewegungnahestehenden Schreibern im Band erscheinen sollte. Die Herausgeber·innen entschieden daraufhin, den betreffenden Text selbst aus der Sammlung zu nehmen, jedoch konnten sie die abgesprungenen Autor·innen leider nicht zurück gewinnen. Zu diesen Vorgängen äußern sich die Herausgeber·innen ausführlich in der Einleitung, die den Titel „Warum dieses Buch ein Fehler war“ trägt.
Doch war es das wirklich – ein Fehler? Um das beantworten zu können, muss man schon etwas genauer hinschauen.
Vorab sei noch gesagt, dass sich dieser Sammelband mit Texten zu den Themen Antisemitismus, anti-Schwarzer und antimuslimischer Rassismus befasst, andere Formen des Rassismus werden ganz bewusst nicht aufgegriffen. Die schwierige Situation, in der die Lager der jeweiligen Kritiker sich in die Quere kommen, die entstehende Opferkonkurrenz zwischen den Betroffenen, die Widersprüche zwischen den einzelnen Kritiken – all das schreit förmlich danach, einmal ausgebreitet und sortiert zu werden. Dazu sollten bestenfalls alle Stimmen wenigstens einmal gehört werden um einen Rahmen abstecken zu können, was sagbar ist. Es gelten selbstverständlich historische Fakten und humanistische Grundsätze – rote Linien müssen erschlossen werden.
Die Herausgeber·innen stimmen keineswegs mit allen Positionen überein, wollten aber die Komplexität der Ausgangslage sichtbar machen. Veröffentlicht wurden Texte, deren Inhalt und Argumente sie für diskussionswürdig halten.
Grundlagen, Bausteine und Anregungen - das erwartet die Leser·innen
Der erste Teil dient, wie sein Titel schon verrät, der Orientierung im metaphorischen Minenfeld.
Verschiedene Autor•innen erläutern die unterschiedlichen Begriffe wie postkolonialer Rassismus, Antisemitismus, antimuslimischer Rassismus und unterschiedliche Herrschaftskritiken, die einander an manchen Stellen gleichen, an manchen aufeinander prallen, einander jedoch selten ausschließen. Dabei wird schnell klar, dass der sogenannte
Nahost-Konflikt aus Israels Sicht durch Antisemitismus seitens Palästina und aus Palästinas Sicht durch antimuslimischen Rassismus seitens Israel besteht.
Beide haben treffende Argumente, die diese Zuordnung zu ließen. Ähnliches geschieht mit dem Islam: Die Antisemitismuskritik sieht den Antisemitismus im Islam und Juden und Jüdinnen als Minderheit, die es zu schützen gilt. Die Rassismuskritik sieht den Rassismus gegen Muslime und diese als die Minderheit, die es zu unterstützen gilt. Der Konflikt unter den Kritiker•innen entsteht wie so oft genau durch diese Dichotomisierung, die gerade in diesem sehr komplexen Themenbereich einmal mehr deplatziert ist.
Ein Blick auf den Fall George Soros, wo sich Antisemitismus und Islamfeindlichkeit vereinen, zeigt das an einem prominenten Beispiel sehr deutlich. Insgesamt werden außerdem Ähnlichkeit und Unterschiede zwischen Islamfeindlichkeit und Antisemitismus genau beleuchtet.
Im zweiten Teil, der den Hauptteil des Sammelbandes bildet, werden häufig aufkommende Fragen un diesem Konflikt gestellt und versucht, diese zu beantworten.
Offensichtlich wird hier das Zusammenspiel und der gegenseitige Nutzen, in dem Antisemitismus und Rassismus miteinander verstrickt sind, aber auch wie schnell genau dadurch in der Diskussion eine Relativierung passieren kann. Die Tatsache, dass die sich vermeintlich gegenüberstehenden Gruppen in sich auch keineswegs homogen sind, führt teilweise zu noch größeren (vermeintlichen) Widersprüchen.
Kritisch werden auch die Zusammenhänge zwischen Antisemitismus und Kapitalismus sowie zwischen Rassismus und Kapitalismus betrachtet und auch das Thema Rassismus und Antisemitismus in progressiven Bewegungen kommt auf den Tisch.
Im dritten Teil befassen sich die Autor·innen mit dem Blick „über den deutschen Tellerrand“ und schauen sich die Probleme Rassismus und Antisemitismus außerhalb Deutschlands an. So geht es unter anderem um die Color-line am Beispiel USA, um den neu aufkeimenden Antisemitismus in Frankreich, aber auch um Israel, wo unter anderem zwischen jüdischen Gruppierungen auch noch immer eine Art Hierarchisierung geschieht.
Der vierte Teil stellt schließlich die nach Zusammentragen der Fakten, Perspektiven und Begebenheiten entscheidende Frage: Wie weiter mit dem Scheitern? Saba-Nur Cheema sucht nach einer Möglichkeit, die Bildung und Aufklärung über antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus unter einen Hut zu bekommen und führt ein Gespräch über mögliche Lösungsansätze in der Praxis.
Die anschließenden Kurzbiografien zu allen Mitwirkenden geben den Leser·innen die Gelegenheit, die Beiträge einzuordnen und die Vielfalt des Bandes zu erfassen.
Ein Versuch, reinen Tisch zu machen
Nein, eine Lösung liefert diese Werk nicht, weder für den Konflikt zwischen den Kritiker•innen und natürlich erst recht nicht für den Nahost-Konflikt. Doch das ist auch gar nicht der Anspruch der Herausgeber·innen.
Es geht darum, die Debatte neu zu beleben, offen darzulegen, wo wir uns befinden und welche Hürden nun genommen werden müssen, um sich nicht gegenseitig im Erreichen gemeinsamer Ziele zu blockieren. Wie dringend das nötig ist, dafür lieferte der Ärger, den es bereits vor der Veröffentlichung gab, wohl ein Paradebeispiel.
Das Buch schafft meiner Meinung nach einen guten, nüchternen Überblick, eine Art Bestandsaufnahme, die die Grundlage zu einer progressiv geführten Debatte bilden könnte. Es mag vielleicht in den Augen mancher nicht perfekt gelungen sein, nicht ausführlich genug, die eigene Sichtweise nicht ausreichend vertreten oder zu einseitig – in welche Richtung auch immer. Aber ich muss für mich an dieser Stelle sagen, wer wäre ich, allein den Mut dazu, dieses Projekt umzusetzen, zu kritisieren.
Wahrscheinlich gäbe es noch unzählige Meinungen, Perspektiven und Beispiele, die man in der Pluralität dieses Themenbereiches noch hätte mit einbringen können, doch sind die Möglichkeiten dahingehend logischerweise auch beschränkt. Daher würde ich dieses Werk nicht als „unvollständig “ bezeichnen, denn ein tatsächlich vollständiges zu erschaffen, wäre ohnehin nicht machbar. Es bietet Ausschnitte und damit Einblicke in unterschiedliche Sichtweisen und Argumentationen und ist damit ein erster Schritt auf dem Weg, eine festgefahrene Debatte wiederzubeleben.
Allerdings ist klar, dass der Weg dorthin noch ein weiter ist. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die die Welt gerne in schwarz/weiß, in Freund und Feind, gesehen wird, um sich dann auf die vermeintlich „richtige“ Seite stellen und sich selbst als moralisch überlegen einordnen zu können. Sowohl gesellschaftlich, als auch unter den Betroffenen und ebenso unter den Aktivist·innen und Kritiker·innen wird es Geduld miteinander brauchen und wir werden lernen müssen, auch Widersprüche auszuhalten – natürlich alles im Rahmen klarer roter Linien.
Gerade in einer Zeit, in der die Rechten „importierten Antisemitismus“ immer häufiger in den Vordergrund stellen, weil er natürlich zum einen von ihrem eigenen Antisemitismus ablenkt und zum anderen ihren antimuslimischen Rassismus rechtfertigt, müssen wir diese Debatte offener und einander zugetaner führen, um nicht dem eigentlichen Feind das Feld zu überlassen.
Der Verbrecherverlag hat freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.
Frenemies
Meron Mendel, Saba-Nur Cheema, Sina Arnold (Hrsg.)
Verbrecher Verlag, 350 Seiten
20,00 Euro