Erinnern an die Novemberpogrome: Eindrücke aus Pirna und Jena
Ein Bericht unseres Gastautors Andreas Schmid.
Eine Fahne mit Davidstern und der Aufschrift „Wir schützen jüdisches Leben“ beim Gedenken an die Novemberpogrome? Für den Veranstalter in Brühl zu viel, wie die Jüdische Allgemeine berichtet.
Der Piraten-Kommunalpolitiker Harry Hupp setzte dem die Krone auf: Die Fahne kritisierte er aufgrund des angeblich fehlenden Zusammenhangs mit der Erinnerungskultur, stattdessen hätte er lieber einen Slogan zur „Aussöhnung von Juden und Palästinensern“ gesehen, zitiert ihn die Zeitung.
Das Erinnern an den Antisemitismus in der NS-Zeit als inhaltsleeres Ritual? Erinnern nur an die Vergangenheit, ohne im Hier und Jetzt für den Schutz jüdischen Lebens einzustehen?
Brühl ist kein Einzelfall, aber Brühl ist nicht überall. Viele Initiativen machten bundesweit in ihren Aufrufen deutlich, dass es ihnen auch um den aktuellen Antisemitismus im Zuge des 07. Oktober und praktische Konsequenzen aus der Geschichte geht. So mobilisierten in Leipzig Gruppen wie „reclaim antifa“ unter dem Motto „Erinnern heißt kämpfen“ zu einer Gedenkkundgebung am Hauptbahnhof.
Auch Pirna und Jena sind nicht Brühl. Das bewiesen die Beteiligten am 09. November bei der Stadtführung „Jeder Mensch hat einen Namen“ durch die Pirnaer Altstadt und einen Tag später bei der antifaschistischen Winterwanderung der BDP-Ortsgruppe Roter Efeu Jena.
Erinnern mit Gegenwartsbezug: Stadtführung in Pirna
„Aber für das berühmte ‚Nie wieder‘ darf es schon ein bisschen mehr sein“, stellt der Vertreter der Pirnaer Autonomen Linken fest. Es ist der 09. November, rund 70 Menschen haben sich dem Gedenkrundgang in der sächsischen Elbestadt angeschlossen. Erstaunlich viele für eine Stadt dieser Größe – und mit diesem Ruf, der bei genauerer Betrachtung einem differenzierten Blick weicht.
In Pirna regiert seit letztem Jahr ein Oberbürgermeister der AfD. Einen Tag später entstand die Initiative Solidarisches Pirna. In dieser idyllisch gelegenen Stadt unweit Dresdens ringt eine lebendige Zivilgesellschaft täglich mit den reaktionären Kräften. Ob Regenbogenfahne am Rathaus, CSD oder die Refugees-Ausstellung „Es ist nicht leise in meinem Kopf“: Die Engagierten stemmen sich gegen den Rechtsruck.
Dieser Gedenkrundgang anlässlich der Novemberpogrome 1938 ist mehr als ein erinnerungspolitisches Ritual, er ist zugleich ein Zeichen gegen die rechten Kräfte in der Stadt und im Land.
Als der Vertreter der Pirnaer Autonomen Linken fordert, den verbreiteten Slogan „Nie wieder“ mit Inhalt zu füllen, denkt er aber nicht an den von der AfD angeführten Rechtsruck. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf ein anderes aktuelles Thema, an diesem Gedenktag naheliegend: das Massaker vom 07. Oktober und den grassierenden Antisemitismus.
Von vorne: Zu Beginn versammeln sich die Teilnehmer*innen in der überfüllten K² – Kulturkiste, der Räumlichkeit des 2001 gegründeten Vereins „AKuBiZ“. Ein Verein, der sich vielfältig gegen Rassismus und jede Form des Antisemitismus engagiert und heute diese Stadtführung in Gedenken an die Novemberpogrome 1938 organisiert. Steffen Richter stellt schon bei seiner Begrüßung den Gegenwartsbezug her: Er verweist auf die pogromartigen Angriffe in Amsterdam, aber auch auf die kurz zuvor erfolgte Verhaftung von Mitgliedern der rechten Terrorgruppe „Sächsische Separatisten“.
Die Anwesenden lauschen einem Gedicht von Tamar Radzyner, einer Widerstandskämpferin im Ghetto Lodz und Holocaust-Überlebenden. Im Jahr 1944 kam sie mit dem letzten Transport nach Auschwitz, danach musste sie im KZ Stutthof und später in einem Außenlager des KZ Flossenbürg in Dresden Zwangsarbeit verrichten. Bei der Verlegung nach Pirna im April 1945 gelang ihr die Flucht. An ihrem Beispiel zeigt sich die Tragik des Jüdischseins: Die überzeugte Kommunistin emigrierte 1959 aus Polen nach Wien, ein wesentlicher Grund hierfür waren die antisemitischen Kampagnen im polnischen Staatskommunismus.
Pirnaer Autonome Linke: „Solidarität mit Juden weltweit und Israel“
Wir verlassen die K²–Kulturkiste, die sich inmitten der historischen Altstadt Pirnas befindet. Begeben uns durch die Gassen, halten vor mehreren Gebäuden. Wir hören die Biografien und Schicksale von Menschen, auf die sich 1938 der Volkszorn richtete. Die Teilnehmer*innen legen Blumen ab, stellen Kerzenlichter auf.
Die Anwesenden sind betroffen angesichts dieser Schicksale. Wie überall auf solchen Gedenkrundgängen. Ein Vertreter der Pirnaischen Autonomen Linken reißt die Teilnehmer*innen aus der Vergangenheit wieder in die Gegenwart. Er zitiert einen Augenzeugenbericht:
„Und das Einzige, an das ich mich erinnern konnte, waren diese schrecklichen Bilder: Brände, Rauch und Leichen, auf dem Bode verbrannt, überall war dieser Geruch von Blut.“
Die Augenzeugin ist keine Holocaust-Überlebende, sondern eine Überlebende des 07. Oktober. Der Sprecher der PAL bezeichnet das „größte antisemitische Massaker seit der Shoa“ als „praktische Konsequenz des Vernichtungsantisemitismus“.
Und die Reaktion in der Welt, auch in Deutschland, dem „Erinnerungsweltmeister“?
„In Israel waren noch nicht einmal die Toten begraben, da gab es bereits Kritik an einem möglichen israelischen Militäreinsatz.“
Der PAL-Vertreter beklagt eine globale antisemitische Welle, maßgeblich von islamischen und linken Milieus getragen. Und er prangert zu viel Rücksicht gegenüber Antisemit*innen an, auch in Pirna, auch in den eigenen Reihen:
„Aus einem falsch verstandenen Antifaschismus heraus, mit diesen gemeinsame Sache zu machen, würde Veranstaltungen wie heute und am 27. Januar als Farce erscheinen lassen.“
Für die Pirnaer Autonome Linke ist klar: Wer an die toten Jüdinnen und Juden erinnert, muss auch solidarisch mit den Lebenden sein und mit dem Staat Israel.
Zwischen Pirna und Brühl liegen heute nicht nur 600 Kilometer.
Mit Wanderstiefeln und Israel-Fahne: Antifaschistische Winterwanderung in Jena
Tramhaltestelle Jena-Lobeda, 12.30 Uhr: Die am südöstlichen Stadtrand gelegene Gegend ist menschenleer. Haltestelle, Bundesstraße, dörflich wirkende Idylle. Hier hat die BDP-Ortsgruppe Roter Efeu Jena zum Treffen für eine Antifaschistische Winterwanderung aufgerufen. Eine Handvoll hat sich bisher eingefunden, insgesamt werden sich rund ein Dutzend aus Jena, Erfurt, Weimar, Halle und Leipzig anschließen.
Die restlichen Teilnehmer*innen lassen um 12.30 Uhr auf sich warten. Wer pünktlich da ist: die Polizei. Mit zwei Mannschaftsbussen zeigt sie Präsenz. Ein Polizist fragt den BDP-Vertreter, ob die Wanderung Privat- oder Versammlungscharakter habe und bietet Polizeischutz an.
Seit dem 07. Oktober 2023 leben wir in angespannten Zeiten.
Die bunt gemischte Wandergruppe lehnt den Schutz dankend ab. Er wird auch nicht nötig sein: Wir absolvieren eine anspruchsvolle, fast fünfstündige Wanderung, bei der wir kaum anderen Menschen begegnen. Polizeibegleitung - eine nahezu absurde Vorstellung.
Ausgerüstet mit langen Fahnenstangen aus Holz, welche die Gruppe zwecks Gruppenfoto mit sich führt, erreichen wir nach wenigen Minuten das Naturschutzgebiet Kernberge und Wöllmisse. Geprägt von Wald und kleinen Bergen, die zwischen 300 und 400 Metern hoch sind. Es ist kalt und neblig.
Die Teilnehmer*innen bewegen sich auf rutschigen Untergrund durch eine wunderschöne Herbstlandschaft, mühen sich die Anstiege hoch, hangeln sich die Abstiege herunter. Und reden derweil viel über die aktuelle Situation.
Top-Thema sind die Aktionen der selbsternannten pro-palästinensischen Szene, die Bezeichnung antiisraelische Szene scheint treffender. Als aggressiv und übergriffig empfindet die Wandergruppe deren Aktionen. Eine Teilnehmerin aus Jena schildert zum Beispiel, dass ein Aktivist die Beteiligten einer israelsolidarischen Gegenkundgebung aus nächster Nähe abgefilmt habe. Ein etwas mulmiges Gefühl sei dies, stellt sie fest.
Im Aufruf zur Winterwanderung schreibt der Rote Efeu Jena:
„In Jena werden seit dem schrecklichen Massaker des 7. Oktobers antisemitische und israelfeindliche Positionen zunehmend normalisiert. Wiederholt versuchten Akteure aus dem israelfeindlichen islamistischen und linksautoritären Spektrum, Angsträume in der Innenstadt zu etablieren.“
Linksautoritäres Spektrum?
Die Studierenden der Wanderrunde berichten von stärker werdenden Aktivitäten dieser autoritär eingestellten Gruppen an den Unis. Und davon, dass sie bei den antiisraelischen Protesten innerhalb und außerhalb der Hochschulen federführend seien. Selbstbewusste „Stalos“ in Seminaren, mittlerweile Normalität.
In einem Artikel für den Kreuzer widmet sich Tobias Prüwer dieser Entwicklung, unter dem Titel „Avantgarde von gestern“ ordnet er den Aufstieg linksautoritärer Gruppen in Leipzig ein. Er zeichnet ein Bild, das sich vielerorts ähnelt.
Den 07. Oktober 2023 und die Folgen begreifen diese Gruppen als Chance, sie entfalten enorme Aktivitäten. Die Grenzen zwischen Linksautoritären, postkolonial Bewegten und Islamismus-Fans verschwimmen bei Demos und Co. Die gemeinsamen Feinde einen: Israel und insgesamt der Westen.
In sozialen Netzwerken fiel die Gruppe „Jena for Palestine“ mit Lobhudelei für den verstorbenen iranischen Außenminister Raisi und den getöteten Hamas-Führer Sinwar auf, wie Teilnehmer*innen der Wanderung berichten und Screenshots bestätigen.
Von solchen Aktivist*innen aus nächster Nähe abgefilmt werden? Das mulmige Gefühl ist nachvollziehbar.
Roter Efeu Jena: Für das Existenzrecht Israels – und ein demokratisches Israel
Zu Beginn der Wanderung biegen wir mehrmals falsch ab, bis das erfahrene Wanderkollektiv Zion Hike Connection aus Leipzig und Halle die Navigation übernimmt. Das Pfadfinden scheint nicht das Hauptbetätigungsfeld der Pfadfinder*innen des Roten Efeu Jena zu sein.
Das lässt sich aber leicht erklären: Der Rote Efeu Jena gehört zum 1948 gegründeten Bund Deutscher Pfadfinder*innen, der sich vornehmlich als politischer Jugendverband betrachtet. Das Durchführen von Wanderungen und Zeltlagern sind nur zwei Aktivitäten von vielen. Im Wesentlichen geht es dem Verband darum, dass junge Menschen an politischen Prozessen partizipieren und für ihre Selbstbestimmung kämpfen. Antifaschismus, Bildung, Ökologie: Der BDP deckt ein breites Themenspektrum ab.
Wir erreichen den Fürstenbrunnen, das touristische Highlight dieser Wanderung. Im Herbst 1552 soll der ehemalige Kurfürst Johannes Friedrich I. kurz nach seiner Entlassung aus kaiserlicher Haft hier eine Rast eingelegt und von Einheimischen freudig empfangen worden sein.
Uns empfängt niemand, bis auf eine kleine Familie, die später das Gruppenfoto aufnehmen wird. Zuvor versammeln wir uns, eine Vertreterin des Roten Efeu Jena hält eine Rede.
Sie erinnert an die Reichspogromnacht, das antisemitische Massaker vom 07. Oktober und die jüngsten Exzesse in Amsterdam. Und widmet sich den Ursachen, zu der sie auch die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zählt. Der Unmut münde aber in „falscher Kapitalismuskritik“, die „antisemitische Revolution“ nationaler oder autoritär-linker Machart wälze die Verhältnisse nicht um. Stattdessen fordert sie einen einen kapitalismuskritischen und antifaschistischen, zugleich ideologie- und autoritätskritischen Kampf.
Ein weiter Weg, bis die Ursachen des Antisemitismus beseitigt seien, stellt sie fest. Und zieht daraus die Schlussfolgerung:
„Deshalb bleibt ein jüdischer Staat, der Staat Israel, der einzige wirkliche Schutzraum [...]“
Sie widmet sich aber auch der momentanen Situation in diesem einzigen jüdischen Staat der Welt. Netanjahu bezeichnet sie als Sicherheitsrisiko und drückt ihre Unterstützung für die Protestbewegung aus:
„Daher gilt unsere Solidarität auch den Menschen in Israel, die laut, kraftvoll und zahlreich gegen die rechte Regierung und für ein weiterhin demokratisches Israel auf die Straße gehen.“
Schweigeminute.
Und dann kommen endlich die langen Fahnenstangen zum Einsatz, bis dahin als Ballast mitgeschleppt: Gruppenfoto.
Unser Gastautor Andreas Schmid stammt aus dem Süddeutschen, lebt aber seit zwanzig Jahren in Dresden, wo er sich trotz aller politischen Herausforderungen heimisch fühlt. Er betreibt den Blog „Hoffnung, doch. Einblicke in den anderen Osten“.