Arbeit, Dienst und Führung – wie viel Nationalsozialismus steckt noch in unserer Arbeitswelt?
Nikolas Lelle hat das Verhältnis der Deutschen zur Arbeit genauer untersucht und festgestellt, dass das nationalsozialistische Erbe in der Arbeitswelt allgegenwärtig ist.
„Ein kluger Mann hat einst gesagt: Arbeit macht frei!“ – diese Worte hat mir ein ehemaligen Arbeitgeber tatsächlich mal an den Kopf geworfen. Wie viel Überzeugung in dieser Aussage lag, kann ich auch nach Jahren nicht abschließend beurteilen. Da jedoch unsere Gesellschaft keineswegs frei von altem Gedankengut ist, sollte es kaum überraschen, dass sich das auch im Bereich der Arbeitswelt widerspiegelt. Aber gibt es hierfür handfeste Belege? Und inwieweit ist das historisch nachvollziehbar?
Nikolas Lelle hat in seiner nun (in gekürzter Fassung) im Verbrecher Verlagerschienenen, sozialphilosophischen Dissertation die Antworten auf genau diese Fragen gesucht und dabei die Geschichte „deutscher Arbeit“ gründlich unter die Lupe genommen.
Ein "kurzer" Überblick
Gleich vorweg: Unbedingt die Einleitung mitlesen! Denn hier finden sich wichtige Erklärungen zur Aufteilung des Buches, zur Argumentationsgrundlage und zum vielleicht wichtigsten Punkt an dieser Stelle – zur Sprache. Der Autor erklärt ausführlich, weshalb zum Beispiel an manchen Stellen nicht gegendert wird oder wie er semantisch mit ideologischen Begriffen umgeht.
Eine der signifikantesten Feststellungen, die der Autor auch gleich zu Beginn seines Interviews mit der „Zeit“ ausführt, ist wohl, dass das sich selbst überhöhende deutsche Selbstbild nur durch die Erniedrigung anderer funktioniert – und, dass es lediglich ein konstruiertes Selbstbild ist.
Im ersten Teil erklärt der Autor anhand zahlreicher Blickwinkel und Quellen die Entstehung des Topos „deutsche Arbeit“ und dessen Bedeutung. Dabei gelingt ihm eine umfangreiche, schlüssige Zusammenführung historischer Ereignisse und Schriften, die zu diesem Selbstbild führten.
Immer wieder kommt er dabei zu dem Ergebnis, dass dieses überhöhte Selbstbild nur funktionieren kann, wenn das „Fremde“ niedergemacht wird. Der Deutsche wird als fleißig gezeichnet, die anderen, insbesondere die Juden, als faul. Schon in Martin Luthers Schriften finden sich Aussagen dieser Art. Das Selbstbild der „deutschen Arbeit“ wird also nicht erst im Nationalsozialismus, sondern bereits bei dem Zusammenfinden als Nation als Identität entwickelt und bestärkt.
Der Nationalsozialismus brauchte es zu seiner Zeit nur noch aufzugreifen und zu radikalisieren. Schockierend sind oftmals die Parallelen zu heute besonders im Sprachgebrauch, so wurden beispielsweise Phrasen wie „kleiner Mann“, „Lügenpresse“ bereits lange vor dem 2. Weltkrieg verwendet. Auch die Parallelen zur Flüchtlingsströmung, als damals Juden aus Osteuropa nach Deutschland flohen, und wie heute Flüchtlinge aus Afrika ebenfalls von den Rechten gerne als faul beschrieben wurden (wie auch bereits im kolonialen Rassismus.), sind kaum zu leugnen.
Besonders der Satz Shulamit Volkovs, der Heinrich von Treitschkes Position wie folgt zusammenfasste: „Sie waren das Gegenteil alles Deutschen und schon ihre Präsenz war eine Gefahr für die deutsche Kultur.“ erinnert stark an die heutigen Rechten und ihre Angst vor einem Kulturverlust durch Zuwanderung.
In den Anfängen des Nationalsozialismus schließt Hitler nahtlos an den Topos des 19. Jahrhunderts an und integriert das Selbstbild der Deutschen in ihrer Arbeitshaltung in den selbigen – und findet damit Anklang, was dem Nationalsozialismus zusätzlichen Zulauf verschafft. 1919 erobern die Freikorps München zurück, welches damit zu einem wichtigen Zentrum der Entwicklung des NS wird und wo Hitler später auch seine Rede zum Thema Arbeitsauffassung und die darin enthaltene Begründung des Antisemitismus halten wird.
Erstaunlich ist, dass das Verhasste möglicherweise genau das war, was man selbst gerne gehabt hätte: Ein Leben ohne allzu schwere Arbeit. Immer gab es im Nationalsozialismus die Gegenüberstellung von gutem und schlechten Kapital, denn das Kapital, das der deutschen Volksgemeinschaft oder Deutschen gehörte, war in den Augen der Nationalsozialisten freilich gutes Kapital. Der Mammoismuswird als Gegensatz zum Sozialismus beschrieben, aber selbstverständlich wird Hitler auch nie müde, die Überlegenheit der Deutschen (Arbeit) zu betonen – diene sie schließlich der Volksgemeinschaft.
Im 3. Reich folgt die Institutionalisierung der „deutschen Arbeit“ in Form von FAD und RAD, auch hier steht der Dienst an der Volksgemeinschaft stets im Mittelpunkt. Am Ende kommt der Autor natürlich nicht um eine ausführliche Analyse der Aussage „Arbeit macht frei“ über dem KZ Auschwitz und dem Zusammenhang zwischen dem Topos „Deutsche Arbeit“ und der Shoah herum. Die Auffassung, Deutsche würden aus „sittlich-moralischem Pflichtgefühl“ arbeiten, fand Ulrich Bröckling laut Lelle sprachlich übrigens in modernen Managementprogrammen wieder.
Der zweite Teil beginnt mit dem Aufgreifen und der Erläuterung des Begriffes „nationalsozialistisches Transformationsproblem“, welches das Kategorisieren von Arbeiten in mehr oder weniger gemeinnützige beschreibt. Im weiteren Verlauf nimmt der Autor die Personalführung im NS genauer unter die Lupe.
Lelle klärt außerdem die Frage nach dem nationalsozialistischen Staat und der Einheit in diesem Staat und stellt dabei fest, dass es auch hier wieder hauptsächlich der Antisemitismus ist, der die einzelnen Institutionen und Gruppierungen zusammenhält.
Besonders interessant ist die genaue Beleuchtung der Bedeutung der Begriffe „Führer“ und „Gefolgschaft“ im Nationalsozialismus – denn diese sind anders, als man zunächst erwarten würde. Hierzu gab es bereits damals eigene Schulen und Schulungen, die man mit heutigen Managementschulungen vergleichen kann.
Bemerkenswert ist auch die Entdemokratisierung in den Betrieben und deren Führung, eigentlich im gesamten Arbeitsrecht. Eine große Rolle spielt auch die Moralisierung von Arbeit, geht es doch um die „soziale Ehre“, um das Arbeiten für die Gemeinschaft. Durch Mechanismen in denen Arbeiter durch besondere Leistungen beispielsweise mehr Eigenverantwortung erhalten, erkennt man spätestens hier die Entstehung unserer Leistungsgesellschaft.
Im 3. Teil geht’s ans Eingemachte: Nikolas Lelle stellt heraus, wo und warum welche Dinge nach dem Krieg einfach weitergingen und welche erst im Verlauf wieder zu Tage traten. Ein aufmerksamer Gang durch die Nachkriegsgeschichte zeigt deutlich, wo die Arbeitsauffassung sich fort- und festgesetzt hat. Arbeit und Leistung als Lebensinhalt, als Berufung, als Identität sind auch heute noch allgegenwärtig.
Im Harzburger Modell, welches der Autor detailliert beschreibt und analysiert, lebt die im NS gefestigte Arbeitsauffassung entnazifiziert weiter – immerhin ist es auch das meistverbreitete Führungsmodell der Nachkriegszeit.
Im Epilog führt Lelle neue, kritische Theorien an, die nicht nur dem Erbe des NS sondern auch dem neoliberalen Kapitalismus entgegen gesetzt werden können und müssen. Er bezieht sich unter anderem auch auch auf Julia Fritzsche, die in „Tiefrot und radikal bunt“ die Abweichungen einer anderen Arbeitslogik als die kapitalistischen „weiße Flecken“ bezeichnet.
Eine mögliche Erklärung dafür, weshalb eine offene Auseinandersetzung mit dem Faschismus eher ungern gesehen wird, beschreibt Nikolas Lelle in einem der letzten Sätze seines Werkes: „Denn das Nachdenken über den Faschismus wirft eine·n zurück auf den Kapitalismus.“
Selbstreflexion bitte!
Nikolas Lelles Werk sollte uns alle einmal mehr dazu bewegen, uns selbst und unsere Denkweisen zu hinterfragen. Welche Auffassung haben wir selbst beim Thema Arbeit? Wie denken wir wenn es um die Themen Leistung und Fleiß geht? Haben auch wir gelernt, dass Arbeit alles ist, dass das, womit wir Geld verdienen das ist, was uns ausmacht? Oder sind wir selbst vielleicht sogar schon einmal aufgrund unserer beruflichen Tätigkeit diskriminiert worden? Beim Lesen dieses Buches wird man das ein oder andere Mal schlucken müssen – denn es liefert Erklärungen für Vieles, was für uns eventuell schon etwas unangenehm, aber dennoch normal ist. Es ist ja „schon immer“ so.
Zum Beispiel wird einem klar, weshalb Arbeitslose in Deutschland so geächtet werden, umgekehrt beginnt man aber auch zu verstehen, weshalb diese Menschen schnell in Depressionen fallen, sich wertlos fühlen: Im deutschen (Selbst-)Bild der Gemeinschaft sind sie tatsächlich wertlos. Die Aufopferung für die Arbeit, das ist es, was von Deutschen erwartet wird – wer war noch nicht in der Situation, krank zur Arbeit gegangen zu sein?
Es verwundert also ebenfalls kaum, dass viele der jüngeren Generationen ausbrechen aus dieser Opferrolle und als Soloselbstständige im kapitalistischen Neoliberalismus ihr Glück suchen. Leider bringt genau diese Entwicklung erneuten Annäherung an nationalsozialistisches Gedankengut – war er doch gerade in Bezug auf die Arbeitswelt schon damals der Gegenpol zu einem liberalen Arbeitsbegriff.
Die Illusion, jeder könne Führer sein obwohl das Führerprinzip natürlich auf eine Person ausgerichtet war, ähnelt ebenfalls der Illusion des Neoliberalismus, jede•r könne alles erreichen (wenn er/sie/* nur hart genug arbeite).
Tatsächlich könnte ich die Liste der Beispiele und Verstrickungen noch lange fortführen, aber am besten wäre, ihr lest einfach das Buch. Dabei wird mit Sicherheit jede·r den ein oder anderen Aha-Moment erleben.
Auch wenn es sich um eine Dissertation handelt, die natürlich vor Fachjargon nur so strotzt, empfehle ich dieses Buch uneingeschränkt. Nikolas Lelle schafft es zwischen den akribischen Recherchen und schlüssigen Argumentationen auch seine persönliche Note nicht zu kurz kommen zu lassen und macht so „Arbeit, Dienst und Führung – der Nationalsozialismus und sein Erbe“ zu einem großartigen, wichtigen Werk.
Arbeit, Dienst und Führung – Der Nationalsozialismus und sein Erbe
Nikolas Lelle
Verbrecher Verlag, 368 Seiten
30,00 Euro